Ein extremer Vogel

Gypaetus barbatus © N. Reynolds (CC BY 2.0, Wikimedia Commons)Keine andere Vogelart ist wohl derart assoziert mit dem Extremen wie der Bartgeier…Mit einer Flügelspannweite von 270cm und mehr ist der Bartgeier der grösste Greifvogel der Alpen. Eben diese Grösse, aber auch seine extrem spezialisierte Ernährungsweise machten diesen Vogel zu einer äusserst faszinierenden, aber auch in Verruf geratenen Tierart. Jagdlich bis zur Ausrottung verfolgt, wurde das letzte Exemplar 1913 im Aostatal geschossen. Seit 1986 läuft ein internationales Wiederansiedlungsprojekt im Alpenraum. Eine Erfolgsgeschichte mit Schweizer Beteiligung: Bisher wurden über 130 Jungvögel aus Zuchten im Alpenraum freigelassen. Und mit 6 erfolgreich brütenden Bartgeierpaaren hat die Schweiz 2013 einen Rekord aufgestellt. Warum aber faszinieren Bartgeier dermassen? Vorhang auf für einen Überlebenskünstler!

Wie eingangs erwähnt, sind Bartgeier echte Nahrungsspezialisten. Ausgewachsene Vögel fressen hauptsächlich Knochen. Diese holen sie sich von Kadavern, deren Muskelfleisch längst von anderen Tieren genutzt wurde. Eben diese Gewohnheit interpretierten Menschen falsch und hielten sie für grausame Raubvögel. Selbst Kindesentführungen wurden ihnen in vergangener Zeit nachgesagt. Aber Bartgeier töten nicht selber. In ihren Streifgebieten überwachen sie potentielle “Futteranzeiger” wie Steinadler oder Kolkraben, die sich lange vor ihnen an Fallwild oder eigens erlegten Beuteresten  beziehungsweise solcher terrestrischer Räuber gütlich getan haben. Dann erst ist die Reihe am Bartgeier. Dünne Knochen vermag er noch mit seinem kräftigen, sichelartig gebogenen Schnabel zu zerkleinern. Mit grössere dagegen schwingt er sich in die Lüfte, um sie aus dem Sturzflug auf sogenannte Knochenschmieden zu schleudern. Auf felsigem, aber nicht zu abschüssigem Untergrund – die Knochen sollen schliesslich nicht davonkullern – zerbrechen sie in schnabelgerechte Stücke. Wenn es nicht auf Anhieb geklappt hat, wird das Prodedere geduldig Duzende Male wiederholt.

An die Nährstoffe, die diese besondere Kost enthält, kommt der Bartgeier schliesslich dank seinem extrem sauren Verdauungssaft, der in stundenlangem Verdauungsprozess den Knochen gänzlich auflöst und das noch enthaltene wertvolle Eiweiss und Fett zugänglich macht. Bei einem Lebendgewicht von 5 bis 7 Kilogramm benötigen ausgewachsene Bartgeier täglich eine Futtermenge von 400-500 Gramm. Diese spezielle Nahrungsnische, die sie besetzt haben, nutzen sie nahezu konkurrenzlos. Und ausgewachsene Vögel finden jederzeit genügend zu fressen für sich.

Aber nicht nur ernährungsphysiologisch, auch was ihre Fortpflanzung betrifft, sind Bartgeier besonders. Ausgerechnet im Winter brüten sie in unzugänglichen Felsnischen und Höhlen. Zwischen Dezember und Februar legen geschlechtsreife Weibchen, – sie sind dann zwischen 6 bis 8 Jahre alt -,  in der Regel im Abstand von 4 bis 5 Tagen zwei Eier ab. Jedes von ihnen wiegt im Durchschnitt 242 Gramm. Abwechselnd bebrüten die Eltern das Gelege. Nach 54 Tagen schliesslich, also zwischen Mitte Februar bis April, ist es so weit und der erste Jungvogel schlüpft. Sein Geschwister, das mit einer Woche Verspätung das Licht der Welt erblickt, wird in Kürze erleben, was Konkurrenz aus den eigenen Reihen bedeutet. Ausdauernd bedrängt und gezwickt wird schliesslich einer der beiden Jungvögel eingehen. Aber warum lassen Bartgeier-Eltern das zu?

Kainismus, wie sich dieses Verhalten nennt, hat sich möglicherweise etabliert, weil Jungvögel im Gegensatz zu ihren Eltern noch keine Knochen zu verdauen mögen und mit Fleisch aufgezogen werden. Bartgeier aber schlagen selber keine Beute und sind deshalb für den Fleischerwerb zur Jungenaufzucht auf Fallwild angewiesen. Ausgangs Winter, wenn ihre Jungen geboren werden, ist eben diese Nahrungsquelle für viele andere Arten ebenso attraktiv. Ein einziger Jungvogel bringt sich selber in eine bessere Ausgangslage, wenn er sein Geschwister tötet. Auf dass er mit 110 Tagen schliesslich flügge werde und selber seine Kreise zu fliegen beginne.

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