Gamsblindheit

Alpstein © A. HeebWenn Wild- und Haustiere in den Alpen die Köpfe zusammenstrecken, ist das nicht niedlich. Stattdessen droht Ansteckungsgefahr.  Vielerorts in der Schweiz sind Schulferien und Familien entfliehen in die Berge, wo sie statt dem Grau des Hochnebels nochmals Sonne tanken.  Die goldgelb verfärbten Lärchen, die schon wieder leicht Schneee bedeckten Gipfel, bilden farbenreiche Idylle. Und wenn dann noch am Horizont sich die Silhouette eines Steinbocks abhebt, möchte das Herz fast zerspringen vor Glück. Doch auch hier gehört zu den natürlichen Lebenszyklen Krankheit und Tod. Aktuell betroffen davon sind die grauen Hornträger, das Steinwild.

Fälle von Gamsblindheit wurden in diesen Tagen publik gemacht. Im Alpstein, sowie im Oberengadin sind betroffene Steinböcke gesichtet worden. Doch woher stammt die Krankheit? Gesunden die betroffenen Wildtiere wieder? Woran erkenne ich, Wanderer, betroffene Tiere und wie verhalte ich mich korrekt?

Viele Schafe sind Träger des Erregers, Mycoplasma conjunctivae, und gelten damit als natürliches Reservoir. Während längst nicht alle domestizierten Tiere erkranken, verursacht das Bakterium bei Stein- und Gamswild eine Bindehauts- und Hornhautentzündung. Dies kann geschehen, wenn Schafe und Wildtiere auf Alpen in Nahkontakt geraten, also z.B. wie eingangs erwähnt wörtlich die Köpfe zusammenstrecken. Möglicherweise spielen auch Fliegen als Vektoren bei der Krankheitsübertragung eine Rolle.

Durch das Bakterium kann sich im Entzündungsverlauf ein befallenes Auge trüben und im schlimmsten Fall entstehen Löcher in der Hornhaut, die schliesslich zu einem regelrechten Auslaufen des Auges und Erblinden des betroffenen Tieres führen. Rund 30 Prozent der erkrankten Wildtiere – insbesondere unerfahrene Jungtiere – sterben, wobei sie durch das immer stärker eingeschränkte  Sehvermögen in ihrem alpinen Lebensraum das wichtigste Sinnesorgan verlieren. Durch Abstürzen oder Verhungern, wenn sie nicht eher von der Wildhut erlöst werden, finden sie schliesslich den Tod.

Die Entzündungen können aber auch abklingen. Voraussetzung dafür ist, dass betroffene Tiere in Ruhe gelassen werden und ungestört genesen können. Gleichwohl sollten möglicherweise erkrankte Wildtiere der Wildhut gemeldet werden, damit sie rechtzeitig intervenieren kann. Man erkennt erkrankte Steinböcke,  Gemsen bzw. Schafe daran, dass sie auch auf geringe Distanz kaum Scheu zeigen, sich im Kreis bewegen und über verklebte, teilweise getrübte Augen verfügen. Was bisher nicht angesprochen wurde ist die hohe Ansteckungsgefahr, die vom Bakterium M. conjuctivae ausgeht.

Die Gamsblindheit ist deshalb so gefürchtet, weil sie oft als Epidemie in einem Stein- oder Gamswildbestand auftritt. Da sich das Bakterium im Einzeltier höchstens 6 Monate hält, ist eine Übertragung auf die neue Generation nicht möglich und damit auch ein Selbsterhalt in einer betroffenen Wildtierpopulation unmöglich. Im Gegensatz dazu sind Schafe wie bereits erwähnt natürliche Reservoirs. Von solchen alpenden Haustieren, insbesondere unbeaufsichtigten, geht daher ein Ansteckungsrisiko aus, das sich schwer abschätzen lässt, weil unter Schafen auch gesunde Krankheitsträger vorkommen, die keine Symptome zeigen.

Wenn nun über Wochen Wild- und Haustiere auf den selben Alpen weiden, werden sie sich unweigerlich nahe kommen bzw. irgendwann weiterziehen. So wurden in der Vergangenheit Fälle von Gamsblindheit in verschiedenen Gamspopulationen festgestelt, die selber keinen Kontakt mit Schafen hatten bzw. im Spätherbst und Winter, wenn sich längst keine Haustiere mehr in den Alpen aufhalten.

Erkrankungen gehören zum natürlichen Lebenszyklus von Wildtieren. Die Gamsblindheit spielt für die in den Alpen festgestellten Bestandesrückgänge im letzten Jahrzehnt wahrscheinlich nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr sind ein komplexes Zusammenspiel verschiedenster Umweltfaktoren (Niederschläge allgemein, insbesondere Schnee, Temperaturen im Jahresverlauf usw.), und menschlicher Einflüsse (Bejagung, Störungen zu allen Jahreszeiten durch menschliche Aktivitäten am Boden, aber auch Überflüge) wohl gemeinsam dafür verantwortlich.

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